2008-04-28

Artefakte aus der Vergangenheit: Audio-Mix-Kassetten [1963 bis in die 90er Jahre]

Die schwarzen, etwa zigarettenschachtel großen Plastikkassetten mit braunen Magnetpartikelbändchen waren einmal unsere Tagebücher zum Anhören. Penibel vom Radio aufgenommene oder aus Musiksammlungen zusammengestellte Cassetten wurden mit lustigen Buchstaben bemalt oder einfach nummeriert. Damit gab es unser persönliches Musikprogramm, wo sonst in verrauchten Gaststätten Geld in eine Jukebox zu werfen wäre oder daheim nach jedem Stück eine andere Platte aufzulegen war. Populäre japanische Leer-Kassetten hatten meist 90 Minuten Laufzeit, allerdings musste nach 45 Minuten die Kassette gewendet werden und erst in den 90er Jahren wurden Autoreverse Tape Decks populär, bevor diese sequentiellen Tonträger ganz verschwanden. Mit den individuell aufgenommenen Kassetten wurden unsere Aufbrüche und Ausbrüche, der Sommer, die Liebe, oder der Weltschmerz des jungen menschlichen Lebens definiert. Für einen Fünfer (denn so teuer waren gute Cassetten in den 80ern) hatte jeder 15-jährige die Möglichkeit, DJ und Cover-Künstler für den besseren Freundeskreis zu werden.

Unnütze Bedenken wie staatsgefährdende Urheberrechtsverletzungen kamen den damaligen Cassetten-Mix-Meistern nicht in den Sinn. Es waren einfache Zeiten, und es gab subtilere Gesetze zu beachten, wie zum Beispiel Punk und Wave-Strecken immer wieder durch Reggae und World Music aufzulockern, wie dies der unvergessene John Peel in den späten 70er Jahren im englischen Radio zelebrierte. Unsere jugendlichen Mixmeister verteilten ihre Cassetten gerne an holde Weiblichkeit, und rieben sich dann ganz verwundert die Augen, wenn sie erzählt bekamen, dass eine Freundin der Freundin die Musik gaaaanz toll findet, ein Kennenlernen leider genauso gaaanz ausgeschlossen sei - damals fehlten eindeutig moderne Kommunikationstechnologien und natürlich die ganzen Möglichkeiten des Internets.

Mix-Kassetten, wie auch die Audiokassette selbst, sind zur Ikone vergessener Jugendkultur geworden. In den 90er Jahren wurden sie von noch materiell vorhandenen CD-ROMs abgelöst, die wiederum den entdinglichten MP3-Playlists zum Opfer fielen, damit war nun die Schöpfungshöhe auf dem niedrigst möglichen Level angelangt. Keine Gedanke mehr an eine sorgsame Wahl der Abfolge - die meisten spielen ihre MP3s eh in zufälliger Reihenfolge ab - und eine fantasievoll gestylte Verpackung ist auch hinfällig geworden. Die neueren Formate haben nichts vom Glitter der klassischen Maxell oder der satten Solidität von TDK SA - Kassetten-Kopien waren langwierig in der Herstellung und häufig gab es nur ein einziges Mastertape.

In den 80er Jahren wurde ich zum lokalen Meister der independent mix tapes. Es war aber gar nicht so schwer, Meister von irgendetwas in einem Kaff in der norddeutschen Tiefebene zu werden. Ich hatte zwei Tapedecks daheim und konnte anhörbare Kopien zusammenstellen. Bis Ende der 80er kamen auf diese Weise rund 30 teilweise mit aufwendigen Overdubs produzierte Cassetten zusammen. Inspriation holte ich mir aus dem Radio, war auch nicht schwer denn ich wohnte bis 1990 im Empfangsbereich des britischen Besatzungsradios BFBS - mit dem besten DJ der damaligen Zeit: John Peel. In den 80er Jahren kamen dann Andy Kershaw, Tim Westwood und David Rodigan mit ihren themenbezogenen Shows für World Music, Rap und HipHop, sowie Reggae dazu. Diesen DJs war die freie Auswahl der Musik gestattet und revolutionär war Ende der 70er Jahre auch die unbändige Energie vieler neuer Gruppen, auch mit einfachen Mitteln Musik zu machen, nachdem die konventionelle Rockmusik in den post-68er-Jahren im verkünstelten Glamour-Pomp-Rock versumpfte. Nach dem Reggae kam in den 80ern die World Music dazu, von der ich durch meine Kurzwellenerfahrung schon einiges gehört hatte. Beständiges konstantes Element hinter "meiner" Musik ist der Roots Reggae der 70er-80er Jahre geworden, noch heute bin ich auf der Suche nach raren Dubs die ich vor -zig Jahren einmal im Radio gehört hatte, dank Internet - dem Roots Archive zum Beispiel - klären sich nun allerdings einige Rätsel vor denen ich damals als 15-jähriger gestanden habe: Lord Sassafrass der rotzfrech über das Upsetter-Travelling von Deborah Kerr toastet - bei Youtube wiedergefunden! War wohl 1976 oder 77 eine 7" für die jamaikanische Jukebox, hat es nicht auf die Build the Ark III von Lee Perry dem Upsetter auf Trojan Records geschafft.

Hier meine mir noch bekannten/vorhandenen Tapes:

1991/04 - Don't cry or is dere a Future?
1990/?? - Coruption / Multivarious
1989/10 - Where is the bass?
1989/04 - DiscoDub I - JBSounds
1988/11 - Yoho in the Dark - All that Jazz
1988/04 - Boys & Girls
1987/10 - Rocktober - Der Bananenkönig
1987/02 - IP-OP - Hip Hop Extravaganza - Its my Party
1986/09 - Vremjaspektr - Das Spektrum der Zeit mit John & Dave
1985/02 - Fab Feb on JBS - & the Twins
1984/12 - Yes, forever, No not again! - together on electric chair
1984/09 - Herbst '84 - jenseits von Gut und Böse (featuring Ausschnitte der Roten Herbstcassette)
1984/?? - Die Schwarze - Die Toten reiten schnell
1984/04 - Die Grüne - für Vittoria & friends
1984/03 - DJ Clash - reggae meets JB Sound
1984/02 - Die Weisse - Discopop The Good Reggae
1983/11 - 83 Stylee - New and Reggae for X-Mas
1983/10 - Electro - Wild Style on Metal 46 tape
1983/09 - Quick Pop-Out - giveaway to the Düsseldorf posse
1983/05 - More Amore / ina different style
1983/01 - 83 Struggle / Der Stand der Dinge
1982/?? - Sound der Arbeit - Jah Bernhard from the Star Controls
1981/11 - Discourse in sound - another program for another community on just another planet
1981/09 - Menton '81 - live featuring the menton beach combo
1981/09 - Best of Summer 81 - Monaco, Menton, Torremolinos
1980/02 - Das 4.Programm - Stoppt Strauß Cassettenlabel - Fanzine style
1980/01 - Das 3.Programm - Stoppt Strauß Cassettenlabel - Fanzine style
1979/12 - Das 2.Programm - X-Mas in Germany
1979/09 - Das 1.Programm - Punk & Reggae
1979/02 - Copy of the 3. Kind - Punk & Reggae
1978/12 - The lost tape - Golden Punk

Update 2013: Die Kassetten aus den 80er Jahren hören sich dank TDK SA und Maxell UDXL allesamt noch sehr frisch an, soweit ich dies mit meinen gealterten Ohren beurteilen kann. Einzig einige damaligen "Chromdioxid" Bänder aus deutschen Landen haben deutlich an Pepp verloren. Gut daß ich damals auf die Japaner gesetzt habe.