2008-05-29

St Petersburg 2008

Die 305 Jahre alte Zarenstadt ist dank florierendem Handel - Petersburg ist weiterhin DAS Tor zur Welt für das russische Kernland - im 21sten Jahrhundert angekommen. An allen Ecken und Enden der Stadt wird schwindelerregend - angeblich nur bis 75 Meter hoch - gebaut, die Immobilienpreise sind auf westeuropäischem Niveau angekommen, nur die Kaufkraft einer prekären Mittelschicht hinkt noch weit hinterher, wiewohl sich Outsourcing nach St Petersburg schon lange nicht mehr lohnt. Immerhin, die Banken scheinen guten Willens gegen 12..15% Kreditzinsen auf die Zukunft ihrer Kunden zu wetten.

Das Straßenbild im Stadtzentrum wird inzwischen von westlichen Automobilen dominiert, Werbung beginnt ganze Straßenzüge zuzukleistern, Videoschirme an Kreuzungen vertreiben aufgestauten Autofahrern die Zeit. Die Stadtverwaltung kämpft eifrig mit Kehrbesen und Wassersprühwagen gegen den vom Winter übriggebliebenem Staub, selbst in den Vororten wo noch Schiguli und Lada die Straße beherrschen. Die Qualität der Fahrbahnen und Bürgersteige macht langsam Fortschritte, nigelnagelneue Straßenbahnwagen warten noch auf gerade verlegte Schienen. Das Eisenbahnwesen kann bestenfalls als "marode" bezeichnet werden, vergleichbar mit den USA in den 80er Jahren, als dort die Personenbeförderung aufgegeben wurde und der Gütertransport noch nicht wiedererstarkte. In der Luft sieht es etwas besser aus, die lokale Fluggesellschaft Pulkovo wurde mit Russia zusammengelegt, fliegt aber weiterhin häufig nach Deutschland, wenn auch auf einem Preisniveau mit Air Berlin und Lufthansa. Eine schwedische Firma sorgt für einen modernen und zuverlässigen Flughafenbus, nur die leidige Registrierung für Ausländer ist immer noch lästig, wenn man nicht in einem Hotel wohnt. Der östliche Autobahnring erfreut sich der ersten Falschfahrer, etwaige Fahrbahnmarkierungen sind nach dem Winter durch Spikes heruntergehobelt, der russische Fahrstil schwankt zwischen "Bandit" und übervorsichtigen Oka-Fahrer(innen). Immerhin ist dies ist die erste richtige Autobahn in der 4-Millionen Stadt, an weiteren Strecken wird fleissig gebaut. Über den Ring im Osten und einen verbreiterten Deich kommt man nun schnell bis Kronstadt, eine Marinesiedlung die vom kalten Krieg verlassen wurde. Wann der Ostseewall nach Süden weitergebaut wird steht zunächst noch in den Sternen, würde er den Trucks aus Viborg einen direkten Weg in den Petersburger Hafen ebnen.

Weniger kosmopolit geht es in den Schlafstädten der Ostsee-Metropole zu. Rund zwanzig Jahre nach Perestroika strömt eine neue Generation in die an strategischen Stellen platzierten Einkaufszentren. Zum Stadtjubiläum 2003 gab es für die Wohnriegelsiedlungen neue bunte Spielgeräte und einige Grünanlagen werden wohl auch weiterhin offiziell gepflegt, aber oft greifen die Bewohner selbst zu Schaufel und Hacke und gestalten das sie umgebende Gemeinschaftsgrün etwas ansehnlicher. Selbst an der viele Jahre stillstehenden U-Bahn Baustelle in der Turku-Schneise wird wieder Dreck aus der Erde gefördert, angeblich soll die Verbindung in den Millionenvorort Kupchino bis 2010 fertig sein. Mir ist nicht ganz klar wer denn in all den neu gebauten Wohnungen wohnen soll, denn mit der nachwachsenden Generation steht es in Russland kaum besser als in Westeuropa. Vielleicht sind es Innenstadtbewohner die von den zunehmend elitären Kitschbauten aus ihren zentral gelegenen Wohnbezirken vertrieben werden? Für Zimmerchen im Palast am Nevsky oder an der Neva werden Preise verlangt, die gute Lagen in London oder Paris alt aussehen lassen. Um Raum für Immobilienprojekte in der Innenstadt zu schaffen, werden reihenweise Bauten aus der Stalinzeit plattgemacht, so dass einige Straßen ihr sozialistisches Flair verlieren und nun ein Sammelsurium aus Neo-Kitsch und vorrevolutionärem Rokoko die Augen des Besuchers erfreuen. Denkmalsschutz in St Petersburg hat einen schweren Stand denn die halbe Innenstadt wäre schützenswürdig. Da weder Stadt noch Staat sich dafür zuständig fühlen, bleibt es privaten Interessen überlassen das eine oder andere Kleinod vor der Radikalmodernisierung zu bewahren.

Aber noch sind wir nicht so weit mit der Immobilienblase im europäischen Raum, in Russland gilt es in den nächsten Jahren erstmal, mit rund 20 prozentiger Teuerung die Energiepreise auf Weltmarktniveau zu hieven. Super Bleifrei notiert derzeit um 25 Rubel der Liter, also umgerechnet knappe 80 Eurocents. Elektrizitäts- und Gaspreise bewegen sich immer noch auf "fast geschenkt" Niveau, so dass kaum Anreiz besteht überhaupt etwas Energie einzusparen. Die in Deutschland so beliebten Energiesparlampen sind nahezu unbekannt, und die (Fern-)Heizung im nordischen Winter wird durch Öffnen der Fenster reguliert.

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