2008-02-27

Reisen in Norddeutschland

Reiseführer gibt es wie Sand am Meer, und immer mehr Webseiten mit individuellen Reise-Erfahrungen und Reise-Tips. In den 80er Jahren war ich selbst einmal als Reiseveranstalter für Individualreisen tätig, leider gab es kein Internet damals, aber seit Mitte der 90er Jahre ist Jahtours online: Statt eines Vorwortes zu den Reiseseiten bei Jahtours.com findet der geneigte Besucher hier ein Wort über Reisen in Norddeutschland - oder eine beliebige andere nicht sonderlich interessante Gegend der Welt:

Ob du reisen sollst - so fragst du - reisen in der flachen Landschaft? Die Antwort auf diese Frage ist nicht eben leicht. Und doch würde es gerade mir nicht anstehn, sie zu umgehen oder wohl gar ein nein zu sagen. So denn also ja. Aber ja unter Vorbedingungen. Laß mich Punkt für Punkt aufzählen, was ich zum wahren Reisen für unerläßlich halte:

*** Erstens: Wer in der Norddeutschen Tiefebene reisen will, der muß zunächst Liebe zu Land und Leuten mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muß den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch kritische Vergleiche plattzumachen.

*** Zweitens: Der Reisende in Nordeutschland muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. Es gibt sensation-heischende Augen, die gleich einen Gletscher oder Meeressturm verlangen, oder zumindest das größte längste schönste. Diese mögen zu Hause bleiben. Es ist mit der flachländischen Natur wie mit manchen Frauen. Auch die häßlichste – sagt das Sprichwort – hat immer noch sieben Schönheiten. Ganz so ist es mit dem Land zwischen Oder und Ems; wenige Orte sind so arm, daß sie nicht auch ihre sieben Schönheiten hätten. Man muß sie nur zu finden verstehn. Wer das Auge dafür hat, der wage es und reise.

*** Drittens: Wenn du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. Dies ist ganz unerläßlich. Wer nach Hannover kommt und einfach nur durch die menschenfeindliche Innenstadt stolpert, die mehr häßlich als gespensterhaft aufragt, wird es für ein Irrenhaus halten und entweder gleichgültig oder wohl gar in ästhetischem Mißbehagen weiterreisen; wer aber weiß: hier wurde die CeBIT erfunden; an diesem Fenster stand Guildo Horn, der sieht das unschöne Hannover mit andern Augen an. – So überall.

Wer, unvertraut mit den Großtaten unserer Geschichte, zwischen Hannover und Hamburg hinfährt, rechts die Heide, links ein paar Truppenübungsplätze, der wird sich die Schirmmütze übers Gesicht ziehn und nach BFBS im Radio suchen; wer aber weiß, hier lag das Lager Bergen-Belsen, dies ist der Freizeitpark von Soltau, oder hier wurde Kampfstoff aus dem ersten Weltkrieg entsorgt, der wird sich aufrichten im Wagen und die Heide plötzlich wie in wunderbarer Beleuchtung sehn.

*** Viertens: Du mußt nicht allzusehr durch den Komfort der großen Touren verwöhnt und verweichlicht sein. Es wird einem selten das Schlimmste zugemutet, aber es kommt doch vor, und keine Lokalkenntnis, keine Reiseerfahrung reichen aus, dich im voraus wissen zu lassen, wo es vorkommen wird und wo nicht. Zustände von Armut und Verwahrlosung schieben sich in die Zustände modernen Kulturlebens ein, und während du eben noch im bergigen Lande das beste Lager fandest, findest du vielleicht im Schenkenländchen eine Lagerstätte, die alle Mängel und Schrecknisse, deren Bett und Linnen überhaupt fähig sind, in sich vereinigt. Regeln sind nicht zu geben, Sicherheitsmaßregeln nicht zu treffen. Wo es gut sein könnte, da triffst du es vielleicht schlecht, und wo du das Kümmerlichste erwartest, überraschen dich Luxus und Behaglichkeit.

*** Fünftens und letztens. Wenn du das Wegstück wagen willst – füll deinen Beutel mit Geld. Reisen in Norddeutschland ist alles andre eher als billig. Glaube nicht, weil du die Preise kennst, die Sprache sprichst und sicher bist vor Kellner und Radarkontrollen, daß du sparen kannst; glaube vor allem nicht daß du es deshalb kannst, weil ja alles so nahe liegt. Die Nähe tut es nicht. In vielen bereisten Ländern kann man billig reisen, wenn man anspruchslos ist; hier kannst du es nicht, wenn du nicht das Glück hast zu den Dauerläufern oder Langstrecken-Radfahrern zu gehören. Ist dies nicht der Fall, ist dir der Wagen ein unabweisliches Wanderungsbedürfnis, so gib es auf, für ein Billiges deine norddeutsche Tour machen zu wollen. Eisenbahnen, wenn du ins Land willst, sind in den wenigsten Fällen nutzbar; also bleibt – das Taxi, oder, weil doch die Landschaft ausgesprochen flach ist, ab und zu ein geliehenes Fahrrad. Taxi ist teuer. Man merkt dir bald an, daß du fort willst oder wohl gar fort mußt, und die norddeutsche Art ist nicht so alles Kaufmännischen bar und bloß, daß sie daraus nicht Vorteil ziehen sollte. Wohlan denn, es kann dir passieren, daß du, um von Soltau nach Munster oder von Buckow nach Werneuchen zu kommen, mehr zahlen mußt als für einen Flug nach Berlin hin und zurück. Nimmst du Anstoß an solchen Preisen und Ärgernissen – so bleibe zu Haus.

Hast du nun aber alle diese Punkte reiflich erwogen, hast du, wie die Engländer sagen, deine Seele fertig gemacht und bist du zu dem Resultate gekommen: Ich kann es wagen, nun denn, so wag es getrost, und du wirst es nicht bereuen. Eigentümliche Freuden und Genüsse werden dich begleiten. Du wirst Entdeckungen machen, denn überall, wohin du kommst, wirst du, vom Touristenstandpunkt aus, eintreten wie in jungfräuliches Land.

Du wirst Klosterruinen begegnen, von deren Existenz höchstens die nächste Stadt eine leise Kenntnis hatte; du wirst inmitten alter Dorfkirchen, deren zerbröckelter Schindelturm nur auf Elend deutete, große Wandbilder oder in den treppenlosen Grüften reiche Kupfersärge mit Kruzifix und vergoldeten Wappenschildern finden; du wirst Schlachtfelder überschreiten, Mülldeponien und Hünengräber, von denen die Menschen nichts mehr wissen, und statt der Wikipedia-Einträge und Allerweltsgeschichten werden Sagen und Legenden und hier und da selbst die Bruchstücke verklungener Lieder zu dir sprechen. Das Beste aber, dem du begegnen wirst, das werden die Menschen sein, vorausgesetzt, daß du dich darauf verstehst, das rechte Wort für den gemeinen Mann zu finden.

Verschmähe nicht dein Zelt neben dem Bauerngehöft aufzurichten, laß dir erzählen vom Landwirt, von seinem Hof und seinem Dorf, von seiner Soldaten- oder seiner Wanderzeit, und sein Geplauder wird dich mit dem Zauber des Natürlichen und Lebendigen umspannnen. Du wirst, wenn du heimkehrst, nichts Auswendiggelerntes gehört haben wie auf geführten Touren, wo alles seinen Preis hat; der Mensch selber aber wird sich vor dir erschlossen haben. Und das bleibt doch immer das Beste.

Frei nach Theodor Fontane, Karlsruhe, im langen Herbst - früher "Winter" genannt - 2007/2008

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